Fußnoten zu Plato und Jung

"Alle abendländische Philosophie ist als ‚Fußnote zu Platon‘ zu verstehen."[1] Diese Auffassung stammt vom englischen Philosophen Alfred North Whitehead. Von C.G. Jung, der zumindest in der Öffentlichkeit immer im Schatten Freuds stand und steht, könnte man dasselbe sagen: Alle Psychologie und Psychotherapie – und nicht nur die – können als Fußnoten zu Jungs Werk aufgefasst werden.

 

Gleich voraus: Ich bin weder Psychologe noch Psychotherapeut. Ich bin Philosoph, der sich nur seit seinem Philosophiestudium auch mit Psychologie, Tiefenpsychologie und Psychotherapie sowie mit Quantenphysik beschäftigt und sehr viel im Austausch mit PsychotherapeutInnen und von den KlientInnen meiner philosophischen Praxis gelernt hat und lernt.

 

Was bedeutet „Fußnoten zu Platon“?

In der antiken Philosophie hob sich das Denken aus den Nebeln des Mythos. Was ist Mythos und was ist Logos? Mythos ist eine Erzählung des Ganzen, aber ohne die rationale Klarheit des Denkens. Heraklit nannte man noch „den Dunklen“. In Platon hat sich das klare Denken gefunden, aber die Ganzheit war noch präsent. Sein Schüler Aristoteles wandte sich bereits den Details zu, ein Weg, der letztlich zur Spezialisierung der Wissenschaften führte, aber auch dazu, das Ganze völlig aus den Augen zu verlieren.[1]

Man könnte es so sehen, dass alle Philosophen nach Platon Detailprobleme, Aspekte oder bestimmte Perspektiven der Wirklichkeit im Auge hatten, die alle im Bild des Ganzen bei Platon enthalten sind. Der „ganze“ Platon ist schwer fassbar. Das kann man verdeutlichen an seinem Höhlengleichnis, das vielleicht das Konzentrat seiner Philosophie in einem Bild ist. Platon wird später und noch heute als Dualist gesehen, so als gäbe es für ihn nur die Schattenwelt an der Höhlenwand und die Ideenwelt außerhalb der Höhle. Dass es darüber hinaus einiges dazwischen gibt – das Feuer, die von Wesen getragenen Gegenstände, die Stufen hinauf aus der Höhle – kommt heute gar nicht mehr in den Bick. Das ganze Bild ist dem fragmentierenden Denken nicht mehr zugänglich.

 

Aber man könnte jegliche Philosophie in der Philosophie Platons und im Speziellen im Höhlengleichnis „verorten“. Und vielleicht nicht nur die Philosophien, sondern auch die gesamte europäische Ideengeschichte – inklusive Psychologie. Denn alles, was nach der Beschreibung der Situation der Höhle passiert an Dynamik, ist Erfahrung des Menschen, und damit ein Geschehen der Psyche. Die Energie, die notwendig ist, um sich von den Fesseln loszumachen, die (inneren) Verletzungen, die möglicherweise dabei entstehen, das Feuer, quasi als inneres Licht, das erst die Schatten sichtbar macht, die Stufen, die zu gehen sind, das Geblendet-Sein am Höhlenausgang, die Unendlichkeit, aus der Sonne und Gestirne leuchten, die aber Orientierung erlauben und erst den Blick auf das Ganze ermöglichen, all das ist nicht nur begrifflich (philosophisch) zu sehen, sondern auch als (psychische) Erfahrung. Platon fasst die Menschheitsfragen in Begriffe, ohne noch das Ganze des Menschen verloren zu haben.

 

… und Fußnoten zu Jung?

Es geht um die Erfahrung (des Ganzen) und den Weg zum (konkreten, wissenschaftlichen) Denken, das Platon damit eröffnet hat. Wenn man sich die Biographie C.G. Jungs[2] anschaut, dann ist er genau diesen Weg gegangen. Schon in seiner Kindheit, in seiner Bewusstwerdung und Ich-Werdung, kam es immer wieder zu Einbrüchen des Unendlichen ins Endliche. Was Jung in seiner Biographie als Persönlichkeit Nr. 1 und Nr. 2 bezeichnet, ist noch nicht klar, noch nicht geschieden, bis es sich dann schließlich als Ich und Selbst kristallisiert.

 

Jung hat bereits einen (bewusst-unbewussten) Erfahrungsschatz über das/sein Menschsein, als er seine Stelle als Psychiater am Burghölzli antritt, im Bewusstsein, dass er keine Ahnung hat, was Psychiatrie ist. Genauso wenig wie seine Kollegen, die sich das aber nicht eingestehen (können), und leichtfertig mit ihren nichtssagenden Diagnosen umgehen. Jung steht hier am entscheidenden Wendepunkt der Psychiatrie, an dem das „Faktendenken“ in ein Fragen nach der persönlichen Geschichte der Patienten mündet. Dies war zunächst ein einsamer Weg Jungs – und ist es letztlich auch geblieben.

 

Jung ist quasi der Anti-Platon. Hatte Platon den Weg eröffnet, aus dem Bild des Ganzen in das fragmentierende Denken der (Natur)Wissenschaft, so hat Jung den Weg eröffnet zurück zur Ganzheit, vom Begriff zum Mythos, vom Teil zum Ganzen, vom Teilchendenken zum Wellen/Beziehungsdenken (in der Sprache der Physik). Seine Psychologie füllt sozusagen wieder das ganze Höhlengleichnis aus, nicht nur einen Aspekt oder einen bestimmten Bereich.

 

Psychologie und Physik

Damit sind wir unversehens in der Terminologie der Physik, und das nicht von ungefähr. Die Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts ist die komplementäre Entwicklung zur Psychologie, was hier nur angedeutet werden kann. Die klassische Physik – ermöglicht durch die Forderung Galileis („Alles, was messbar ist, messen“) und die Unterscheidung (nicht Trennung!) von res extensa und res cogitans des Decartes – mündete in der freudigen Erwartung Ende des 19. Jahrhunderts, dass jetzt nur noch die kleinsten „Bausteine“ des Universums gefunden werden müssen, um alles (auch das Leben) zu erklären.

 

Dieser Auffassung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts radikal der Boden entzogen: Es gibt so etwas wie „kleinste Bausteine“ gar nicht! Die Welt der Elementar-„Teilchen“ hat nichts zu tun mit dem, was man sich bisher unter Materie vorgestellt hat. Photonen und alle Elementarteilchen sind keine Teilchen, sondern Quantenphänomene, die je nach Experiment sich entweder als Teilchen oder Wellen zeigen. Obwohl es sich um eine Entität handelt, können wir nicht beide Aspekte zugleich sehen.

 

Ohne Physik mit Psychologie oder gar Mystik zu vermischen (was leider oft geschieht), darf man daraus aber doch ableiten, dass die Wirklichkeit nicht eindeutig bestimmbar ist. Wir brauchen zwei völlig gegensätzliche Beschreibungen, um ihrer gerecht zu werden. (Und nach Heisenbergs Unschärferelation ist es prinzipiell unmöglich, irgendwann einmal alles zu wissen). Elementarteilchen müssen – obwohl sie keins von beiden „sind“ – als Teilchen oder Welle beschrieben werden. Das sind nicht zwei verschiedene Entitäten, sondern zwei verschiedene, ja gegensätzliche Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Niels Bohr nannte dieses Verhältnis „komplementär“.

Damit sind wir wieder bei der Psychologie. Für Jung sind Bewusstsein und Unbewusstes komplementär, d.h. „gegensätzlich“, aber zusammengehörend. An der Komplementarität (in Physik und Psychologie) versagt die bisherige europäische Logik. Für die gilt: Entweder-Oder, Gegensätze schließen einander aus. Von zwei gegensätzlichen Aussagen kann nur eine wahr, die andere falsch sein, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.

 

Die gibt es aber sehr wohl, nämlich als Komplementarität. Etwas so Gegensätzliches wie Teilchen (Materielles an einem „Punkt“) und Welle („grenzenlose“ Energie als Feld) sind letztlich dasselbe – auch wenn eine konkrete Vorstellung davon unmöglich ist.

 

Teilchen- und Wellenbild

Es gibt offenbar zwei Sichtweisen auf die „Welt“ und den Menschen: Das bisher vorherrschende Teilchenbild – die Welt, bestehend aus Dingen, Objekten, Fakten – und das Wellenbild – die „Welt“ als Feld, als Beziehung. Wer die Welt objektiv sieht, wie die klassische Physik es tun musste, der kann nicht sehen, dass er selbst in dieser Welt enthalten ist und erst aus dieser Beziehung so etwas wie „Welt“ entstehen kann. Das heißt, in einem objektiven Weltbild oder in der Naturwissenschaft kommt der Mensch als Mensch nicht vor. „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“[3]

 

Die moderne Physik hat entdeckt, dass das Teilchenbild nicht ausreicht, die Wirklichkeit zu beschreiben, es muss durch das Wellenbild ergänzt werden. C.G. Jung hat der Psychologie das ihr eigene Wellenbild erschlossen. Statt nichtssagender Diagnosen und Definitionen wandte er sich der Biografie der Patienten, der Geschichte hinter den Diagnosen zu. Nicht Begriffe, sondern Erzählungen stehen am Anfang der Therapie und ermöglichen diese erst. Erzählungen, Beziehung, Biografisches, all das ist „wellenartig“ und kann mit einem definierenden/abgrenzenden begrifflichen Teilchendenken nicht erfasst werden. Um Menschen wissenschaftlich zu beschreiben, braucht es beides.

 

Zurück zum Mythos

Jungs Weg führte damit – schon in seiner Kindheit – zurück zur Ganzheit menschlichen Seins, zu etwas, das dunkel hinter dem bewussten Ich steht, von dem dieses nur ein „Teil“ ist. Er führte zur Anerkennung von etwas Größerem, Unbewussten und Unnennbaren, das aber immer in die vordergründige Realität einbrechen kann. Jung war offenbar ein Naturtalent, was dieses Zulassen und Offensein für diese umfassendere Wirklichkeit betrifft. Man kann es als Mythos des Ganzen bezeichnen, und Jungs Weg führte auch zurück zu den kollektiven Mythen der Menschheit.

Aber schon als Kind dämmerte es ihm, dass mit diesem Ganzen immer schon zwei gemeint sind. Denn das Bewusstsein des Ganzen beginnt mit einer Spaltung. Bewusstsein gibt es nur an einem Gegenüber. Jung hatte mit 12 Jahren, nach der Überwindung seiner Unfallneurose, auf dem langen Schulweg ein einschneidendes Erlebnis: „Da gab es einmal einen Augenblick, in dem ich plötzlich das überwältigende Gefühl hatte, soeben aus einem dichten Nebel herausgetreten zu sein, mit dem Bewusstsein, jetzt bin ich. In meinem Rücken war‘s wie eine Nebelwand, hinter der ich noch nicht war. Aber in jenem Augenblick geschah ich mir. Vorher war ich auch vorhanden, aber alles war nur geschehen. Jetzt wusste ich: Jetzt bin ich, jetzt bin ich vorhanden.[4]

 

Es war der Eintritt in das bewusste Ich, die Nebel des mythischen Seins verlassend, das ihm aber damit nicht verschlossen war.  Der junge Jung pendelt zwischen zwei Seinsweisen. Er nennt sie Persönlichkeit 1 und 2.  Person 1 ist der unsichere Schuljunge, der er war. Person 2 war alt, bedeutend, mächtig, aber nicht bewusst, sondern dunkel, offen zum Ganzen und mit einem Geheimnis verbunden – „der Menschenwelt fern“. Jung sah seine ganze Jugend unter dem Begriff des Geheimnisses.

 

Das Geheimnisvolle

Damit sind wir in der Welt des Religiösen, die für Jung zum menschlichen Sein gehört. Aber im Gegensatz zu seiner Umgebung und seiner Zeit war die religiöse Dimension nicht durch Denken und Glauben zu erobern, sondern nur durch Erfahrung und Wissen. Immer wieder kritisiert er, dass die Priester und Theologen keine religiöse Erfahrung hätten. Erfahrbar war ihm diese Welt nur mit der Person 2, einem „Bereich, wie ein Tempel, in dem jeder Eintretende gewandelt wurde. Von der Anschauung des Weltganzen überwältigt und seiner selbst vergessend konnte er nur noch wundern und bewundern. Hier lebte ‚der Andere‘, der Gott als ein heimliches, persönliches und zugleich überpersönliches Geheimnis kannte.“[5]

 

Viele sprechen von Gott, aber meinen damit jeweils etwas anderes. Für Jung war „Gott“, auch in seiner Kindheit, nicht der „liebe Gott“, sondern der, der auch geheimnisvoll, dunkel, furchtbar, unberechenbar, der Allerunbekannteste war und ist. Nicht der oben im Himmel ist, sondern der oben und unten umfasst. „Die Gespräche mit jenem ‚Anderen‘ waren meine tiefsten Erlebnisse: einesteils blutiger Kampf, andererseits höchstes Entzücken.“ [6] Analog ist die Welt ebenso schön wie grausam.

 

Man muss auch verstehen, dass für Jung durch seinen unmittelbaren Zugang zur Person 2, wie er es in Bezug auf seine Kindheit nannte, „Gott“ selbstverständlich war. Er hatte sich intensiv mit Theologie und Philosophie beschäftigt, und deren theoretische Konstrukte weitgehend abgelehnt. „Damals war es mir plötzlich klar, dass Gott, für mich wenigstens, eine der allersichersten, unmittelbaren Erfahrungen war.“[7] Eine Erfahrung, die ebenso wie die Erfahrung eines Sonnenuntergangs keines Beweises bedurfte.

 

Fußnoten zu Jung

Jung fühlte sich keiner Religion zugehörig, aber als menschliche Seinsweise war ihm Religiosität selbstverständlich. Er verdankte diese Offenheit seinem fast ständigen Zugang zu Person 2. So kam es, dass er sich mit den tiefsten Wurzeln der Neurosen und des Menschseins, mit den mythischen Tiefen und Höhen sowie mit spirituellen und mystischen Erfahrungen beschäftigte. Jung war der Meinung, dass Menschen, die sich mit ungenügenden oder oberflächlichen Antworten auf die wesentlichen Fragen des Lebens begnügen, neurotisch werden. Denen müsse man die Dimension des Ganzen und des Numinosen erschließen. So umfasst sein Werk alle Oktaven menschlichen Seins, sodass man alle Psychologie und Psychotherapie in dieses Spektrum einordnen kann.

 

Das ist aber nicht das einzige Argument. Wir kennen den Schulenstreit, der im Anschluss an Freud und dem „Abfall“ eines Teils seiner Schüler entstanden ist. Jede Schule bestand auf ihrer Methode und ihren Aspekt oder ihrer Perspektive der Psyche. Jung dagegen betonte immer wieder, dass er keine Schule gründen wollte und auch keine Methode hatte. Seine ersten Patienten behandelte er ohne Methode oder mit den verschiedensten Methoden wie Hypnose, Assoziationen, Traumdeutung, geduldiges Zuhören, aber im Wesentlichen ging es ihm um die Geschichte des Patienten, und die ist natürlich individuell. Es kam auch schon mal vor, dass er etwas tat, was man als Arzt und Psychotherapeut nicht tut – um des Patienten willen.

 

In der damaligen Psychiatrie war die Psychologie unbekannt. „Klinische Diagnosen sind wichtig, da sie eine gewisse Orientierung geben, aber dem Patienten helfen sie nichts. Der entscheidende Punkt ist die Frage der ‚Geschichte‘ des Patienten…“ [8] Statt den Fakten und Diagnosen (Teilchendenken) widmete sich Jung den Sinnzusammenhängen (Wellendenken) in der Psychose. Die Psychologie der Patienten sah er vor dem Hintergrund einer allgemeinen Psychologie des Menschen. Aus heutiger Sicht klingt es erschreckend, wenn Jung sagt: „Aber es brauchte noch sehr viel Zeit, bis man anfing, die Psychologie in die Psychotherapie aufzunehmen.“[9]

 

Jung anerkannte die epochale Leistung Sigmund Freuds, aber ihn als „Schüler“ Freuds zu bezeichnen, trifft es nicht ganz. Es war eine Freundschaft, die an den völlig unterschiedlichen Auffassungen (und am engeren Horizont Freuds) zerbrach. Jung verstand seine Psychologie nicht unter einem bestimmten Aspekt (der Sexualität, der Macht, des Konflikts, der Generationen, des Schicksals, des Sinns, der Transpersonalität etc.), sondern sie umfasste alle diese Aspekte. Es gibt kaum eine psychologische Aussage, die nicht in sein opus magnum passt und irgendwo dort auftaucht.

 

Jung zog es zum wissenschaftlichen Arbeiten hin, aber er stand nicht an, die Forderungen der naturwissenschaftlichen Logik zu überschreiten, etwa die Forderung nach Eindeutigkeit. „In der Psychologie gibt es ohnehin kaum eine eindeutige Wahrheit.“[10] In den Naturwissenschaften geht es um allgemeine Aussagen, Jung ging es um das Individuelle im Rahmen des Kollektiven. Er behandle jeden Patienten so individuell wie möglich, betonte Jung. Allgemeine Regeln ließen sich nur cum grano salis aufstellen. „Eine psychologische Wahrheit ist nur dann gültig, wenn man sie auch umkehren kann.“ Eben je nach Patienten. Das erinnert übrigens an den Mitschöpfer der Quantentheorie, Niels Bohr: Es gäbe einfache Wahrheiten, deren Gegenteil einfach falsch ist. „Die andere Art, die sogenannten ‚tiefen Wahrheiten‘, sind dagegen Behauptungen, deren Gegenteil auch tiefe Wahrheit enthält.“[11]

(Die Frage der Wissenschaftlichkeit in Naturwissenschaft und Psychologie wäre ein eigenes Thema, das hier aber zu weit führen würde).

 

 

Psychologie, Geschichte, Physik und Religion

Jung stellt seine Psychologie von Anfang an in den Kontext der Religiosität – nicht der Religion oder Konfession, sondern der Religiosität. Es geht um die Persönlichkeit Nr. 2, um das Numinose, Unbewusste, um das Selbst und die Individuation. Dabei ist der Archetypus des Selbst von der Gottesvorstellung nicht zu unterscheiden. Natürlich blieb Jung unverstanden und wurde zum Mystiker oder Esoteriker gestempelt und wird von Esoterikern oftmals missbraucht. Dabei ging es ihm „nur“ um die Psychologie. Aber die Psyche – und nicht die Außenwelt – ist das einzige, das dem Menschen unmittelbar zugänglich ist. Andererseits geht es auch in den Religionen nicht primär um Gott, sondern um den Menschen, um den Anthropos, um die Menschwerdung, in der Sprache Jungs um die Individuation.

 

Aus Sicht der Psychologie Jungs ist Geschichte die Manifestation des Archetypus. Daher musste er seine Psychologie in den kollektiven Mythos einbetten. Konkret wurde diese Perspektive, als er die Alchemie entdeckte, in der der christliche und gnostische Mythos im Grenzgebiet zwischen Materie und Psyche weiterlebte und im 20. Jahrhundert in der Psychologie bewusst wurde. Die psychologische Deutung der Alchemie konnte die entstandene historische Lücke schließen. Manches konnte Jung erst einordnen, als er sich mit asiatischen Kulturen beschäftigte. Der Taoismus war ihm Einstieg in die Alchemie, und das Mandala erschloss ihm endgültig den Begriff des Selbst.

 

Die Brücke zur Quantenphysik und Niels Bohr über den Begriff der Komplementarität wurde bereits erwähnt. Als Wolfgang Pauli sich in Therapie bei Jung begab, wurde danach eine Freundschaft daraus und eine intensive Auseinandersetzung über Psychologie und Physik. Die Entwicklung dieser Gedanken kann man in den Briefen[12] nachlesen.

 

Eine interessante Verbindung von Physik und Psychologie ist die Zahl: Sie findet ihre mathematische Anwendung in der Physik (und entbindet viele Physiker von der an sich – zumindest seit der Quantentheorie – notwendigen Interpretation der Fakten), ist aber auch zu mythischen Aussagen fähig. Sie ist „einerseits eine unabdingbare Eigenschaft der natürlichen Dinge, andererseits ist sie ebenso unzweifelhaft numinos, d.h. psychisch.“ [13]

 

Die klassische Physik hatte das Subjekt aus der Forschung herausgenommen. Die Erschütterung der Quantenphysik war die Erkenntnis, dass das gar nicht möglich ist. Das Erkennen verändert das Erkannte. Auch in der Physik geht es nicht um die (objektive) Natur, sondern um das Erkennen der Natur. Pauli ging noch einen Schritt weiter, indem ihm eine Physis und Psyche einheitlich umfassende Naturbeschreibung vorschwebte. „In Wahrheit dürften aber Physis und Psyche zwei Aspekte eines und desselben abstrakten Sachverhaltes sein.“[14] Auch Jung nahm eine gemeinsame „Matrix“ von Physis und Psyche an.

(Das Thema Psychologie und Physik wäre eine eigene Betrachtung wert, würde aber hier auch zu weit führen).

 

Selbsterfahrung

Jung hat quasi einen Rahmen abgesteckt, der nicht zu überbieten ist, weil er immer offen geblieben ist. Der Schlüssel dazu steckt schon in seinen ersten Träumen in seiner Kindheit, die zunächst und lange Zeit unverständlich blieben. Immer blieb er offen für diese Botschaften aus dem Unbewussten, aus dem Selbst. Mehr noch: Sein Leben und seine wissenschaftliche Arbeit sind identisch. Zentrales Thema ist die Menschwerdung, in psychologischer Sprache die Individuation, in religiöser Sprache die Inkarnation. Daher die Beschäftigung mit Physik einerseits, mit Religiosität andererseits. Die Alchemie stand quasi in der Mitte dieser „Extreme“. Am Ende konnte er sagen: „In dem Augenblick, wo ich den Boden erreichte, stieß ich gleichzeitig an die äußerste Grenze des mir wissenschaftlich erfassbaren, an das Transzendente, das Wesen des Archetypus an sich, worüber sich keine wissenschaftlichen Aussagen mehr machen lassen.[15]

 

Zentral und wesentlich bei Jung ist die Selbsterfahrung, und zwar in einem weit umfassenderen Sinne als in der üblichen Selbstanalyse. Sein Werk ist mit seinem Leben identisch. Seine Bücher sind Stationen seines Lebens, Niederschlag seiner inneren Entwicklung. Er bezeichnet seine Schriften als Aufträge von innen her. Was heißt, das war keine vom Ich her gewollte Entwicklung – die nie weit genug führen könnte – sondern immer von einem Umfassenderen angestoßen und initiiert, eben als Individuation.

 

Diese musste sich am Ende sogar in Stein manifestieren, in seinem „Turm“ in Bollingen. Auch der baute sich quasi von innen her, als Manifestation aus dem Unbewussten. Ein „Raum für das raumlose Reich des Hintergrunds.“[16] Ein dreidimensionales Mandala, Symbol der psychischen Ganzheit, erbaut in drei mal vier Jahren. Und aus dem beinahe verworfenen Eckstein wurde als pars pro toto „sein Stein“. Auf dessen Rückseite meißelte Jung einen Spruch des Alchemisten Arnaldus von Villanova (gest. 1313) ein:

„Ich bin eine Waise, allein; dennoch werde ich überall gefunden. – Ich bin Einer, aber mir selber entgegengesetzt. Ich bin Jüngling und Greis zugleich. Ich habe weder Vater noch Mutter gekannt, weil man mich wie einen Fisch aus der Tiefe herausnehmen muss. Oder weil ich wie ein weißer Stein vom Himmel falle. In Wäldern und Bergen streife ich umher, aber ich bin verborgen im innersten Menschen. Sterblich bin ich für jedermann, dennoch werde ich nicht berührt vom Wechsel der Zeiten.“

 

In Jungs Werk werden die einander ausschließenden Gegensätze zur zusammengehörenden Komplementarität, er geht an die äußersten Grenzen, die immer noch ein jenseits der Grenze voraussetzen. Er hat die Demut, den Willen des Ich beiseite zu stellen und sich von der unbewussten Ganzheit leiten zu lassen. Er hat den Mut, nicht vorab seine Hypothesen zu formulieren, die das Werk begrenzen würden, sondern sich dem Unbekannten, Geheimnisvollen zu überlassen. Am Ende steht ein in Stein gemeißeltes Lebenswerk, sein Turm in Bollingen, den er mit seiner Offenheit für das Transzendente bewohnt.

 



[1] Ein anderes Zitat von Whitehead: „Aristoteles erfand die Wissenschaft, aber zerstörte die Philosophie.“

[2][2] C.G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken. Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé, 1961. 19. Aufl. 2016

[3] Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico philosophicus, 6.52

[4] Jung, Erinnerungen. S. 47

[5] Jung, Erinnerungen. S. 60

[6] ebda S. 63

[7] ebda S.78

[8] Jung, Erinnerungen. S. 144

[9] ebda S. 148

[10] ebda S. 137

[11] Niels Bohr, Atomphysik und menschliche Erkenntnis, Springer 1985

[12] C.A. Meier (Hrg.), Wolfgang Pauli und C.G. Jung. Ein Briefwechsel 1932-1958. Springer 1992

[13] ebda, S 132

[14] ebda, S. 158

[15] Erinnerungen, S 245 f.

[16] ebda S. 250

 



[1] "Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, dass sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht." - Prozess und Realität (Process and Reality), Teil II, Kapitel 1, Abschnitt 1, S. 91

 (Original engl.: "The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.")

 

Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“