Welt- und Menschenbild
in Wissenschaft und Gesellschaft
Robert Harsieber
(Statement bei der SciCom08 – „Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaftskommunikation“, Internationale Fachtagung, Technische Universität Wien, Nov. 2008)
Wissenschaftskommunikation kann sich nicht nur mit Details, d.h. mit Fragmenten befassen und Ergebnisse von Forschungen und Experimenten etc. kommunizieren, sondern muss auch das jeweilige Welt- und Menschenbild, den Denkrahmen, mit kommunizieren. Das Problem dabei ist allerdings: Ein wirklich zeitgemäßes Weltbild gibt es in unserer „modernen“ Gesellschaft noch nicht.
Exakte Naturwissenschaft befasst sich mit Materie in Raum und Zeit. Unser heutiges Weltbild ist an die Naturwissenschaft angelehnt – das naturwissenschaftlich Erfassbare ist ein Synonym für Realität geworden. Gefühle, Gedanken, Psyche fallen aus diesem Rahmen heraus.
Exakte Naturwissenschaft befasst sich mit dem Allgemeinen, dem für alle Menschen gleichermaßen Gültigen. Das Individuelle und Einmalige hat hier keinen Platz. Auch wenn in der „Natur“ letztlich alles einmalig ist. Kein Blatt gleicht dem anderen.
Bemerkenswert ist aber auch, dass die Physik, die unseren – auf Aristoteles zurückgehenden – westlichen Denkrahmen vollendet hat, ebendiesen Rahmen bereits gesprengt hat. Das bis dahin gewohnte „Entweder-Oder“ ist auf die moderne Physik nur mehr eingeschränkt anwendbar.
Die Welt der Physik ist heute eine Welt, die weit entfernt ist von unseren gewohnten Vorstellungen, die mit unserem Bild der Welt nicht mehr kompatibel ist.
Hans-Peter Dürr, Schüler und Nachfolger von Werner Heisenberg, Friedensnobelpreisträger und Träger des Alternativen Nobelpreises, beginnt seine Vorträge oft mit den Worten: „Ich habe als Physiker 50 Jahre lang – mein ganzes Forscherleben – damit verbracht, zu fragen was eigentlich hinter der Materie steckt. Das Endergebnis ist ganz einfach: Es gibt keine Materie! Ich habe somit 50 Jahre an etwas gearbeitet, das es gar nicht gibt. Das war eine erstaunliche Erfahrung: Zu lernen, dass es das, von dessen Wirklichkeit alle überzeugt sind, am Ende gar nicht gibt.“[1] Das hätte eigentlich weitreichende Konsequenzen.
Die klassische Vorstellung von Teilchen und zwischen diesen Teilchen wirkenden Kräften, hat mit der subatomaren Wirklichkeit nichts zu tun. Es gibt hier nur ein immaterielles, letztlich unteilbares Ganzes.
Es sind Überlegungen der modernen Physik, dass das Fundament unserer Wirklichkeit nicht das ist, was wir uns gewöhnlich unter Materie vorstellen, sondern etwas Spirituelles, das sich nicht be-greifen lässt[2]. Wohlgemerkt, das behauptet ein Physiker! Selbst der Ausdruck „fundament“ ist für Hans-Peter Dürr falsch, weil wir da automatisch an Substanz denken. Die Grundlage unserer Wirklichkeit hat kein Fundament, sondern im Grunde ist etwas Lebendiges. Das aktuelle Thema ist „Leben“ und das Erstaunliche ist, dass wir das sogar im Innersten der „Materie“ finden.
Wenn wir gewohnheitsmäßig an Teilchen und dazwischen wirkende Kräfte denken, dann entspricht das nicht der subatomaren Wirklichkeit. Es gibt keine Verbindung von Teilen, sondern nur eine Verbundenheit, ohne dass die Verbundenheit an irgendetwas geknüpft ist, was wir begreifen können.
Elementarteilchen sind nicht Teilchen und Welle gleichzeitig, oder je nachdem, wie wir ein Experiment anlegen, sie sind gar keine Dinge, keine dingliche Realität, sondern etwas völlig anderes, etwas, für das wir noch keine adäquate Vorstellung haben.
Wir leben aber in der Welt, die wir uns vorstellen können, in der es Dinge an ihrem Platz gibt, aber auch für die Komplexität dieser realen Welt haben wir keine Vorstellung. Auch hier denken wir „naturwissenschaftlich“ – Naturwissenschaft muss vereinfachen, einzelne Parameter analysieren, Komplexität ist aber so nicht in den Griff zu bekommen.
Doch auch hier hat die Naturwissenschaft ihren bisherigen Rahmen bereits gesprengt: Die sogenannte Chaostheorie hat nichts mit (dem werbewirksamen Titel) Chaos zu tun, sondern ist erstmals eine Theorie komplexer Systeme.
Naturwissenschaft und Weltbild: Während die Revolution Galileis und Newtons sozusagen voll in das Weltbild der Gesellschaft eingegangen ist, hatte die Revolution vor allem der Quantenmechanik bisher keinerlei Auswirkungen auf unser Weltbild.
Unser heutiges Weltbild ist daher zwar an die Naturwissenschaft angelehnt – aber an die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren die Physiker überzeugt, dass sie nur die kleinsten Teilchen der Welt finden müssten, dann könnten sie alles – einschließlich des menschlichen Gehirns – erklären. Und das war nach damaliger Vorstellung nur eine Frage der Zeit.
Lord Kelvin hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts seinen Studenten sogar abgeraten, Physik zu studieren, weil es langweilig wäre, weil man nur mehr Kommastellen verfeinern könne, sonst wäre alles auf Schiene.
Ja – und dann wurde es erst richtig interessant: dann kam Max Planck, Albert Einstein und eine ganze Population von Genies in der Physik (Max Born, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Erwin Schrödinger und viele andere, die an der Quantenmechanik mitgearbeitet haben. Viele haben für ihren Beitrag zur Quantentheorie den Nobelpreis bekommen. Aber was ihr Weltbild betrifft, fühlten sie sich einstimmig so, als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen. Einige – darunter auch Einstein – sahen sich außerstande, den weiteren Weg mitzugehen. Das Weltbild der klassischen Physik brach zusammen wie ein Kartenhaus, und ein neues Weltbild musste mühsam erarbeitet werden – und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
Ein adäquates Weltbild müsste weit über das gewohnte klassische Weltbild hinausgehen. Das ist schon für Physiker nicht einfach, die Gesellschaft ist damit bisher überfordert. Die Ergebnisse der modernen Physik hatten bisher keinerlei Auswirkungen auf unser Weltbild. Es wäre eine ebenso dringliche wie schwierige Aufgabe der Wissenschaftskommunikation, hier einen Wissenstransfer einzuleiten und zu begleiten.
Wenn man davon ausgeht, dass Wissenschaftskommunikation nicht nach der Wissenschaft kommt, dann ist es eine gemeinsame Aufgabe von Wissenschaftlern und Kommunikatoren, den von der Physik initiierten Wandel des europäischen Denkrahmens mit der Gesellschaft zu kommunizieren und den gesellschaftlichen Denkrahmen zu verändern, den heutigen Gegebenheiten anzupassen, die Gesellschaft aus dem 19. Jahrhundert herauszuführen.
Denn das Nicht-Rezipieren eines neuen Denkrahmens hat dazu geführt, dass wir heute mit der Technologie des 20. Jahrhunderts und den Problemen des 21. Jahrhunderts leben, und das alles mit dem Denken des 19. Jahrhunderts bewältigen wollen – und das kann nur in den Graben führen, wie Hans-Peter Dürr formuliert.
Diese Diskrepanz führt natürlich zu Problemen in der Wissenschaftskommunikation: Wie kommunizieren Physiker – die uns das materialistische, reduktionistische Weltbild beschert haben (das nebenbei bemerkt unglaublich erfolgreich war und ist), die aber selbst bereits darüber hinaus gegangen sind – mit einer Gesellschaft, die noch immer denkt wie im 19. Jahrhundert?
Dass wir in unserem Denken 100 Jahre zurück sind, zeigt ein aktuelles Beispiel: Durch die Brille des 19. Jahrhunderts kann man über die kommenden Aktivitäten am Cern formulieren: "Die größte Maschine der Welt auf der Suche nach den kleinsten Teilchen des Universums".
Klingt großartig – nur, seit 100 Jahren wissen wir (oder könnten wir wissen), dass es diese kleinsten Teilchen, diese kleinsten Bausteine der Welt gar nicht gibt, nicht geben kann. In dieser Welt gibt es keine „Teilchen“ und keine „Bausteine“.
Zukunftsfähigkeit (Nachhaltigkeit) ist sicher eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Mit dem Denken des 19. Jahrhunderts ist diese allerdings nicht zu erreichen. Dazu wäre eine Neuorientierung nötig. Im Rahmen der alten Weltvorstellung, nach der wir uns als Rädchen in einer Maschine verstehen müssen, haben wir keine Perspektive.
Wenn das Ganze die primäre Wirklichkeit ist, was die moderne Physik nahelegt, dann ist auch der Mensch eingebettet in ein größeres Ganzes. Und genau das behauptet Hans-Peter Dürr. „Wir leiden unter dem Verlust der geistigen Dimension – viele wissen gar nicht mehr, was das ist.“ Viele glauben, ganz rational zu sein und halten nur das für real, was sich beweisen lässt. Dem hält der Physiker entgegen: „Man kann gar nicht so leben, dieser Eindruck täuscht. Wer das denkt, hat gar nichts verstanden. Trotzdem lebt er weiter, weil im Hintergrund doch etwas ist, was er nur negiert. Das Herz schlägt weiter, auch wenn man nicht daran glaubt, dass es schlägt. Im Hintergrund ist eine Beziehungsstruktur, die alles in Gang hält.“[3]
Elemente eines neuen Denkens: Nach unserer gewohnten Vorstellung ist die Welt da draußen das, was wir wahrnehmen, und was das ist hauptsächlich Materie. Deshalb sprechen wir gerne von „Realität“ (von lat. res), die dingliche Welt, die wir be-greifen können. Für die Anordnung der Materie in der Zeit gelten die bekannten Naturgesetze, daher können wir „prophezeien“, was kommt und sagen, was in der Vergangenheit war. So entsteht der Eindruck, dass die Welt begreifbar ist und dass wir die Welt prinzipiell in den Griff bekommen könnten. Das wäre nur eine Frage der Zeit. Im 19. Jahrhundert entsprach das auch noch der Anschauung der Physiker.
Für viele gilt das auch heute noch. Nicht nur das, es soll nicht nur für die unbelebte Welt gelten, für die die Physik zuständig ist, sondern auch für die belebte. Auch das Lebendige müsste letztlich für uns verstehbar und begreifbar sein, ganz analog der naturwissenschaftlichen Forschung, die sich aber – und das vergessen wir dabei sehr leicht – nur mit der unbelebten Materie befasst und befassen kann.
Aber die Quantenmechanik hat gezeigt, dass selbst der Hintergrund dessen, was wir als „Materie“ bezeichnen, mit unseren Vorstellungen nicht mehr kompatibel ist. Die Naturwissenschaft ist an einem Punkt angelangt, wo sie die Annahme, dass wir einmal alles genau wissen werden, aufgeben muss. Naturwissenschaft muss eine Sprache verwenden, die unserer Umgangssprache und unseren gewohnten Vorstellungen nicht mehr zugänglich ist.
Im Grunde ist Materie nicht Materie, behauptet Hans-Peter Dürr. Es gibt im Innersten der Welt keine kleinsten Bausteine, keine Dinge, keine Objekte, sondern nur eine Beziehungsstruktur. Die Frage, was ist und was existiert, kann nicht mehr gestellt werden, weil diese Frage keinen Sinn mehr ergibt. Sinnvoll ist nur die Frage, was passiert und was bindet – aber nicht, was Teile verbindet. Die Wissenschaft büßt in diesem neuen Denken ihre Vorrangstellung ein, sie kann nicht mehr sagen, was ist und was nicht.
Gemeint ist damit aber auch nicht, dass die Welt immateriell ist – der vielbegangene Exit in die Esoterik steht dabei nicht offen – sondern a-materiell. Dürr versucht das so zu erklären: Die Frage nach der Materie ist sinnlos geworden, so wie die Frage: Welche Farbe hat ein Kreis? Der gemalte Kreis hat eine Farbe, die ist aber nicht Eigenschaft des Kreises.
Es tritt auch nicht Energie an die Stelle von Materie – auch diese esoterische Ausflucht ist uns verbaut. Das sich Verbinden mit dem „Universum“, das „Arbeiten“ mit Kräften des Universums, „Energiemedizin“ und ähnlich naive Ausflüchte sind allesamt ebenfalls 19. Jahrhundert.
Die Wirklichkeit ist nicht Realität, nicht räumlich lokalisiert, sondern Potenzialität – die sich aber energetisch und materiell manifestieren kann. Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist nicht räumlicher Natur. Es gibt nur das Eine – wir könnten sagen: das Ganze, aber auch das ist für Hans-Peter Dürr nicht das richtige Wort. Dass Ganze ist etwas, dem kein Teil fehlt. Aber genau genommen gibt es gar keine Teile, aus denen wir das Ganze zusammensetzen könnten. Die Welt ist das Ganz-Eine, etwas, das man gar nicht aufteilen kann. Eine Zerstückelung ist gar nicht möglich.
Das alles ist Physik, hat aber selbstverständlich Konsequenzen auf unser Selbstverständnis. Dürr nennt ein Beispiel: „Wir alle, die wir in diesem Raum sitzen, wir sind wohl unterschiedlich, aber nicht getrennt. Wir sind alle in einer Gemeinsamkeit, und das ist eine wesentliche Voraussetzung, dass wir überhaupt miteinander kommunizieren können.“
Eine andere Diskrepanz, die natürlich auch die Kommunikation erschwert, ist die Tatsache, dass sich die exakte Naturwissenschaft nicht direkt mit unserer Lebenswelt beschäftigt, sondern die Welt, in der wir leben ersetzt durch eine Welt, die sie erfindet (Pietschmann).
Naturwissenschaft zerlegt die Wirklichkeit in kleinste, möglichst isolierte Fragmente. Eine künstliche Situation, denn in freier Natur hängt alles mit allem zusammen, nichts ist isoliert. Die Wirklichkeit (das Ganze) geht weit über die dingliche Realität (res = Ding) hinaus. „Wenn alle möglichen Fragen der Wissenschaft beantwortet sind, sind unsere Lebensprobleme noch nicht einmal berührt.“ (Wittgenstein).
Die Verwechslung dessen was Naturwissenschaft untersucht mit unserer Lebenswirklichkeit ist allgegenwärtig, aber fatal. Diese Verwechslung impliziert nämlich, dass wir das naturwissenschaftlich Erforschbare für die „Wirklichkeit“ halten und alles andere für „unwirklich“. Das hat auch Folgen für die Wissenschaft selbst: etwa dass sich die medizinische Forschung an der Naturwissenschaft und nicht am Menschen orientiert.
Natürlich soll hier nicht gegen die Naturwissenschaft argumentiert werden, die ungeheuer erfolgreich war und ist, das aber in ihrem Bereich, der nicht die ganze Wirklichkeit ist. Auch die Medizin braucht die Naturwissenschaft – keine Frage – aber nicht nur Naturwissenschaft, Medizin ist mehr. Naturwissenschaft beschäftigt sich nicht mit dem Menschlichen, mit dem ganzen Menschen. Wer glaubt, nur naturwissenschaftliche Medizin zu betreiben, hat den Menschen aus dem Auge verloren. Das ist auch das Problem der heutigen Medizin.
Naturwissenschaft beschäftigt sich erfolgreich mit Materie in Raum und Zeit – mit toter Materie, Leben ist etwas ganz anderes – aber auch Welt ist etwas viel weiter zu Fassendes. Wieder möchte ich das mit einem Zitat eines Physiknobelpreisträgers, Erwin Schrödinger, belegen: Der hat einmal, als er bei einem Vortrag auf Weltlinien zu sprechen kam, eine Pause eingelegt und dann gemeint: „Ich sage so ungern Weltlinie, Welt ist ja so viel mehr als Elementarteilchen in Raum und Zeit.“
Zur Welt des Lebendigen: Derjenigen Disziplin, die sich mit dem Leben befasst, der Biologie, ist diese Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter Materie, die heute so gerne verdrängt wird, bewusst. Auch Biologie kann daher nur zum Teil Naturwissenschaft sein, in anderen Bereichen ist sie eine autonome Wissenschaft, so Ernst Mayr, den man als den „Darwin des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat. Er sieht eine fundamentale Differenz zwischen der Biologie und den exakten Naturwissenschaften, „die allein mit ihrer reduktionistischen Herangehensweise die Komplexität organismischen Lebens nicht erklären können“[4]. Daher habe auch keine der großen Entdeckungen der Physik des 20. Jahrhunderts irgendetwas zum Verständnis der belebten Welt oder der Biologie beitragen können.
Die physikalische Methode, ein Phänomen auf seine kleinsten Komponenten zurückzuführen, kann gar nicht auf die Biologie übertragen werden, weil „eine Reduktion auf das unterste Organisationsniveau die Biologie aus den Augen verliert“. Und noch radikaler: „Die Analyse ist und bleibt eine wichtige Methode für das Studium komplexer Systeme. Die Reduktion dagegen beruht auf falschen Annahmen und sollte aus dem Vokabular der Wissenschaft gestrichen werden.“[5] „Wissenschaft“ kann für Mayr nicht auf die mathematisch beschreibbare Physik beschränkt werden. Vor allem die Evolutionsbiologie unterscheidet sich fundamental von der Physik und ähnelt in vielem der Geschichtswissenschaft, der historischen Rekonstruktion.
„Eigentlich steht die Evolutionsbiologie als Wissenschaft den Geisteswissenschaften sehr viel näher als den exakten Naturwissenschaften. Wollte man eine Trennlinie zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften ziehen, so verliefe sie mitten durch die Biologie.“[6] Diese Trennung sei von Philosophen vorgeschlagen worden, die in der Physik und in den Geisteswissenschaften zuhause waren, aber nichts über die Biologie wussten. Für Mayr aber ist die Biologie die Brücke zwischen den beiden Welten.
So wie die Physik zur Leitwissenschaft des 20. Jahrhunderts wurde, so könnten die sogenannten Lebenswissenschaften die Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts werden. Aber die stehen meines Erachtens heute genau dort, wo die Physik Ende des 19. Jahrhunderts stand: auf der Suche nach den kleinsten Bausteinen des Hirns, man will alles, bis hin zum Bewusstsein, mit Neuronen erklären. Es scheint daher nicht vermessen zu prophezeien, dass das eine ähnlich überraschende Wende nehmen könnte wie die Physik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Ein kurzer Schwenk in die heutige Gesellschaft: Die Vorstellung von Realität wurde eingeengt auf die Welt der Physik des 19. Jahrhunderts. Wir leben so, als wäre das Unbewusste nie entdeckt worden (Erwin Ringel), wir leben aber auch so, als wäre die Physik des 20. Jahrhunderts inexistent.
Wir fragmentieren unsere Lebenswelt – als wären wir auf der Suche nach den kleinsten Teilchen dieser Welt – und sehen nur mehr das Materielle, das es nach Dürr gar nicht gibt.
Wir fragmentieren aber auch uns selbst – auf das Ich als psychisches Elementarteilchen, das Zentrum der bewussten Welt. Ein Punkt im Vergleich mit dem Unterbewussten, dem Unbewussten, dem Selbst als dem Zentrum der bewussten und unbewussten Welt. Und auch das ist nach C.G. Jung nicht das Ende des Menschlichen.
Wir fragmentieren unsere Welt. Das führt z.B. zum Spezialistentum und zur Missachtung der größeren Zusammenhänge. Hier wird allerdings auch schon reagiert, Interdisziplinarität ist das Schlagwort. Wir können damit aber – eben aufgrund unseres Weltbilds – nur schwer umgehen, weil uns der fragmentierende Denkrahmen daran hindert.
Ein Akteur aus dem AKH erklärte das einmal so: Interdisziplinarität heißt heute, dass Fachleute aus verschiedenen Disziplinen zusammenkommen, jeder liefert seine Sicht ab – und dann geht man wieder auseinander. Behindert durch den Denkrahmen des 19. Jahrhunderts.
Was wäre von der Wissenschaftskommunikation zu erwarten?
Nicht nur fragmentarisch Ergebnisse berichten, sondern den Gesamtzusammenhang mitzutransportieren. Die Diskrepanz zwischen dem Denkrahmen der Gesellschaft und dem Denkrahmen der modernen Wissenschaften thematisieren. Wissenschaftsjournalisten sind mehr als andere Disziplinen auf Hintergrundwissen angewiesen.
Diese Spannung zwischen dem alten und einem möglichen und notwendigen neuen Denken nicht unter den Tisch zu kehren, sondern bewusst zu machen und zu kommunizieren, sollte die Wissenschaftskommunikation beleben, Wissenschaft für die Gesellschaft interessanter machen und ein Beitrag der Wissenschaftler und der Kommunikatoren sein zur Entwicklung eines wirklich zeitgemäßen Welt- und Menschenbilds.